Ferdinand Ebner

Fragmente Werdung

“Fragmente Werdung”

By Herbert Limberger
18. Dezember 2017

Excerpiert aus der Kösel-Ausgabe.
Heraushebung und Zeileneinteilung zwecks leichterer Lesbarkeit geändert.
 


Samstag 22. Februar 1919
Die ganze Woche sehr fleißig an den Fragmenten gearbeitet und so viel weitergebracht, dass ich mich nun auf einmal gar nicht mehr weit vom Schlusse sehe.
Ginge das so weiter, so wäre ich in 2 Wochen fertig,
was wohl nicht zu hoffen ist…
Ich wage es nicht, die Tage, wie ich sie jetzt verbringen durfte, vom Morgen bis zum Abend beim Schreibtisch und mit dem sicheren Gefühl, dass alles stimme und schön seinen Gang nehme
für die schönsten meines Lebens zu halten,
obwohl ich sehr dazu geneigt bin.

Gefahren:
In die Lust des objektiven Lebens mich zu verlieren …
Symptome eine Gehirnminderwertigkeit


Samstag 1. März 1919
Heute Vormittag schrieb ich die Schlussworte zum letzten Fragment.
Frohes Aufatmen???
Fertig ist die Arbeit eigentlich nicht, es fehlen noch ein paar Einschübe, zwei wichtige sogar darunter.
Aber ich habe bereits das Gefühl, dass ich den Kontakt mit der ganzen Sache verliere.
Diese Arbeit ist der Höhepunkt meines irdischen Lebens.
Sie ist die Erste, die zu einem Abschluss zu bringen mir der Himmel vergönnte,
und dafür sage ich ihm Dank.


Freitag 7. März 1919
Vormittags überreichte ich dem Chef mein Gesuch um Urlaubsverlängerung.
Vor und nachher schrieb ich an den letzten Einträgen zu den Fragmenten,
im allerletzten Augenblick noch über etwas, wie mir scheint, ins Klare kommend, was mir bisher immer ganz unklar und unfasslich geblieben war: das hagion pneuma des NT(Neuen Testaments).
So wäre ich denn also wirklich fertig.
Aber von frohem Gefühl „nach getaner Arbeit“ spüre ich nichts …

Übrigens –
Was sollte denn auch mit diesen Fragmenten in einem tieferen Sinne getan sein?
Es haftet ihnen noch viel zu viel von jenem Ungeist an,
gegen den sie sich wenden.
Und wem dürfte ich es übel nehmen, der sie ästhetisch-philosophisch missverstände?
Ist doch ganz gewiß etwas in ihnen, was dazu herausfordert.
Ich selber glaube ja, über alles Ästhetische und Philosophische geistig hinausgekommen zu sein.
Aber sind es auch die Fragmente, soviel sie auch davon sprechen?
Und hierin liegt ihr eigentlicher Mangel – nicht im Sprachlich-Formalen und in der Unzulänglichkeit der gedanklichen Entwicklung – ein Mangel, den bezeichnenderweise in unserer Zeit gar niemand auch nur bemerken, geschweige denn verstehen würde, ausgenommen Theodor Haecker, auch niemand in meiner nächsten Umgebung.


Samstag 8. März 1919
Ward mir, als mir im Laufe der letzten 3 Jahre das Wesen des Worts und der Sprache aufging und immer klarer wurde, eine Erkenntnis zuteil, von der ich bis jetzt geistig nicht den rechten Gebrauch zu machen weiß?

Denn da ich nun die Fragmente zum Abschluss gebracht habe, fühle ich, was ich schon während der Arbeit immer gefühlt habe:
Dass ich in ihnen nicht den richtigen Gebrauch von jener Erkenntnis gemacht habe.
Das lässt mich den Gedanken leicht ertragen, dass das Manuskript ja doch wieder im Schreibtisch liegen bleiben wird.
Nichtsdestotrotz will ich mir eine Reinschrift des Konzepts machen.


Samstag 29. März 1919
Nach dem Abendessen las ich L ein Stück der Fragmente vor.
Mein Interesse an ihnen wird gerade solange angehalten, bis die Reinschrift fertig ist.

Fast ist es mir ein wohltuender Gedanke, dass das Ganze ja doch in Anlage und Durchführung (freilich nicht in seinem wesentlichen Gedanken) verfehlt und darum für die Veröffentlichung unbrauchbar ist.


Sonntag 30. März1919
Die Fragmente über das Wort hätten so und nicht anders geschrieben werden sollen:
dass in ihnen die Frage des geistigen Lebens aufgeworfen wird, ohne jede Antwort;
Aber so, dass der Leser absolut gezwungen wird, sich selber eine Antwort, “DIE Antwort, zu geben”.
Die Fragmente sind also im wesentlichen verfehlt.
L 11.4.
…Mich drängt es schrecklich, meine Arbeit restlos fertig zu kriegen.
Heute begann ich die Reinschrift des letzten Fragments, das sind etwa 20 bis 25 Seiten, mit denen ich, so hoffend und rechnend, bis Sonntag mittags fertig bin, um sie dann sofort dem Hauer zu bringen …
Die interessantesten Fragmente … das sind die Drei letzten.
Vor allem Hochmut eines „Schaffenden“ bin ich ohne jeden Kleinheitswahn gefeit.
Wenn der Himmel will, sink ich wieder in meine Volksschullehrerexistenz hinunter.

Ach ich bin so müde– ich kann niemanden sagen wie.
Und dabei mach ich auf alle Menschen den Eindruck, dass ich mich so gut erholt habe …


Samstag 12. April 1919
Gegen Abend schloss ich die Reinschrift des 18. Fragments über das Wort ab und so bin ich denn, nachdem ich den schon am 1.März geschriebenen Schluss wesentlich geändert habe, mit dieser Arbeit wirklich fertig geworden.
So ganz ohne Feier ließ ich das nicht sein – ich lud nämlich den Schach auf ein Glas Wein zum Klebl ein.


Sonntag 13. April 1919

Am Morgen:
L:
Muss ich dir doch gleich Bericht erstatten, dass ich gestern abends knapp vor dem Abendessen noch mit der Reinschrift der Fragmente, also mit der Arbeit des heurigen Winters, restlos fertig geworden bin, mit dem Gefühl auch, fertig zu sein.

Den schon am 1.3. geschriebenen Schluss hatte ich wesentlich umschreiben müssen, wie ich auch sonst, entgegen meinem anfänglichen Vornehmen, im Konzept manches geändert und sogar nicht ganz Unbedeutsame eingefügt habe, so dass ich tatsächlich erst gestern abends abgeschlossen habe.
Und nun bin ich doch froh, weniger über die Arbeit an sich, deren Fehler und Mängel ich nur zu gut erkenne …
Aber froh bin ich, dass ich fertig bin, dass ich jetzt nicht mehr Tag für Tag von 7 h früh bis 7 h abends beim Schreibtisch zu sitzen habe, dass ich lesen kann, was mich freut, dass ich wieder ein „freier Denker“ bin, der seinen Gedanken, wenn sie ihm kommen, nachgehen kann, wenn es ihm Spaß macht.


Montag 14. April 1919
Es fehlte nur noch, das mich meine Fragmente irgendwie aus meiner sozialen und intellektuellen Einsamkeit herausrissen – doch die Gefahr ist ja abzuwenden: Einsperren!

L 29.4.
… der Hauer ist mit der Reinschrift der Fragmente fertig geworden …
Jetzt liegen die zwei Manuskripte im Schreibtisch …
Wenn ich nur einen einzigen urteilsfähigen Menschen wüsste, dem ich die Arbeit lesen lassen könnte …

L 22.5.
… in den letzten Tagen las ich mir die Fragmente durch und habe gestern eines davon, den Schluss, auch dem Schach vorgelesen.
Es stimmt da alles so wunderbar –
Und es ist nichts, das ich bereute, geschrieben zu haben, weder im Einzelnen noch im Ganzen.
Ich weiß, ohne dass ich mich durch größenwahnsinnige Autosuggestionen zu diesem Gefühl empor zu peitschen brauche, dass diese Fragmente ein bedeutendes Werk sind …
L 2.6.
… ich fange an, wieder Gablitz-reif zu werden.
Schadet nichts.
Im Herbst muss ich ja doch wieder in die Schule.

L 17.6.
Ich gedenke, die Fragmente sobald als nur möglich, – sobald ich die Adresse weiß – dem Theodor Haecker zu senden.
Das ist der einzige Mensch, dessen Kritik, mag sie wie immer ausfallen, ich akzeptiere.
In den letzten Tagen schrieb ich das Vorwort noch einmal, das Gutachten des Philosophieprofessors an die Spitze stellend.
Das ist nun eine arge Satire.
Aber ich habe das Gutachten ja nicht böswillig erfunden.
Nebenbei bemerkt: Die Idee, es dem Werk beizulegen, ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Das riet mir der Prokurist der Firma Braumüller.
Entwurf Haecker 16.8.
Nichts könnte mir willkommener sein als Ihr Rat, die Fragm. (ente) dem Brenner-Verlag anzubieten, und Ihre Empfehlung der Arbeit bei Herrn von Ficker.
Ich bitte Sie also, diesem das Manuskript zu schicken.
Auch mit der Veröffentlichung eines der Fragmente im wieder erscheinenden Brenner wäre ich natürlich einverstanden.
Sie schlagen das über Weiniger vor- momentan wüsste ich kein anderes, das sich besser eignete, so mag es also bei dem bleiben.
L 14.9.
Einen Tag probierte ich es als Nichtraucher.
Doch kaufte ich mir etliche Stück Schleichhandelszigaretten, natürlich um einen irrsinnigen Preis.

Der Druck der Fragmente … denn ich sollte ihn nicht erleben (bei meinem ungesunden Leben). Sind sie (Fragmente) nicht so ein recht eigentlich ein Nachlasswerk, eine Art Testament, Vermächtnis? …
Ein Nachlasswerk sind sie übrigens auch im andern Sinne des Wortes …
F 17.9.
Durch Haecker …
E>F 23.9.
Außerordentliche Freude


Auszug aus dem editorischen Bericht zu den Fragmenten

(siehe ferdinand ebner online edition)

 

Datum Fragment/Anmerkung Quelle
29.11.1918 Anfang Fragment 1 Tgb 1918, 29.11.1918
01.12.1918 Fragment 1 Tgb 1918, 1.12.1918; An Luise Karpischek 3.12.1918
04.12.1918 Fragment 1 An Luise Karpischek 4.12.1918
05.12.1918 3. x Anfang Fragment 1 Tgb 1918, 6.12.1918
06.12.1918 Fragment 9 An Luise Karpischek 10.12.1918
09.12.1918 Ende Fragment 9 Tgb 1918, 9.12.1918; An Luise Karpischek 10.12.1918
10.12.1918 Anfang Fragment 10 Tgb 1918, 10.12.1918
11.12.1918 ? Tgb 1918, 11.12. 1918
19.12.1918 Anfang Fragment 6 Tgb 1918-1923, 20.12.1918
20.12.1918 Fragment 6 Tgb 1918-1923, 20.12.1918
21.12.1918 Fragment 6 Tgb 1918-1923, 21.12.1918
22.12.1918 Fragment 6 Tgb 1918-1923, 22.12.1918
23.12.1918 Pause Tgb 1918-1923, 23.12.1918
20.01.1919 Fragment 6 Tgb 1918-1923, 21.1.1919
21.01.1919 Ende Fragment 6; Fragment 18 Tgb 1918-1923, 21.1.1919
24.01.1919 ? Korrekturen Tgb 1918-1923, 24.1.1919
11.02.1919 Anfang Fragment 12 Tgb 1918-1923, 11.2.1919;
An Luise Karpischek 11.2.1919
11.02.1919 - 16.02.1919 Fragment 12 An Luise Karpischek 16.2.1919
16.02.1919 Ende Fragment 12 An Luise Karpischek 16.2.1919
16.02.1919 - 22.02.1919 ? Tgb 1918-1923, 22.2.1919
22.02.1919 Fragment 16 An Luise Karpischek 22.2.1919
26.02.1919 Ende Fragment 17 Tgb 1918-1923, 26.2.1919;
27.02.1919 Anfang Fragment 18 An Luise Karpischek 27.2.1919
01.03.1919 Ende Fragment 18 Tgb 1918-1923, 1.3.1919;
An Luise Karpischek 4.3.1919
03.03.1919 Fragment 4 An Luise Karpischek 4.3.1919
04.03.1919 ? An Luise Karpischek 4.3.1919
07.03.1919 ?; Fragment 14 Tgb 1918-1923, 7.3.1919
? Fragment 13 Tgb 1918-1923, 8.3.1919
05.06.1919 Vorwort Tgb 1918-1923, 6.6.1919
16.06.1919 2. x Vorwort Tgb 1918-1923, 16.6.1919